Rezension: Nimm einen Namen von Wiete Lenk

Heute mal eine Literaturempfehlung von mir:

„Nimm einen Namen“ heißt der neue Erzählband der Autorin Wiete Lenk. So wie ihr letzter Band „Krähenbeißer“ ist auch er im Dresdner Verlag Zwiebook erschienen.
Tatsächlich könnte er jedoch den Titel „Ich erinnere mich an…“ tragen. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass die Autorin diese Worte beim Schreiben im Hinterkopf hatte.
Ich erinnere mich an…die Nachbarstochter, mit der ich Kirschkern-spucken geübt habe. Ich vermisse sie so wie die anderen Kinderspiele, in denen wir das Erwachsensein probten: Das ungezwungene Nacktbaden, die ersten Zigaretten, das erste Stelldichein…
Aber: „Es kimmt alles wieder“, denkt Julius in der Erzählung „Trude“ und erinnert sich dabei an den alten Menne, der jahrelang eine Wetterstation bestritt. Dieser Gedanke steht im Buch stellvertretend für all die erlittenen Verluste: des ersten Freundes, der Schwester, der Mutter und des Vaters und sogar der Heimat – kleine Lücken, die größer werden mit zunehmendem Alter und wachsenden Erfahrungen.
Hier fühle ich mich heimisch, erinnere längst vergessen Geglaubtes. Weil die Texte eigenes Erleben assoziieren. Und weil die Welt, in die ich eintauche, zum größten Teil die zwischen den Mauern ist, ist es auch ein Teil meiner Geschichte. Die erzählt natürlich Jede und Jeder anders. Wiete Lenk beschreibt sie auf eine besondere Art und Weise. Sie verknüpft Erinnerungen mit Beobachtungen, verbindet Erlebtes mit Erzähltem und berührt dabei tief die Sinne der Leserin. Aber auch wenn ich mich in eine frühere Zeit zurück versetzt finde, sprechen die Dinge doch ebenso vom Heute. Geändert haben sich einige Begrifflichkeiten. Mancherlei Worte haben einen seltsamen, fernen Klang. Für unsere Kinder werden sie sich fremd anhören.
Die damals gängige Zigarettensorte war f6, man trug Nylons von Esda, die Marmelade kam aus der HO. Man hörte heimlich Rias oder Radio Luxemburg. Und Kölsch Wasser steckte im „Westpaket“.
Heute trinkt man Mate und Mixgetränke statt Gotano. Also da erinnere ich mich doch an… – aber das wäre meine eigene (ungeschriebene) Geschichte.
In den Texten geht es neben Vergangenheits- auch um Angst- und Schmerzbewältigung.
Wiete Lenk gelingt es in den kleinen Begebenheiten unerwartete Wendungen zu präsentieren. Sie baut Spannungen auf um Fragen zu lösen oder sie auch mal offen zu lassen. Sie macht damit ein Weiterdenken der Geschichte möglich, aber auch kleine Beben auszulösen. Außerdem provoziert sie die Frage: Ist meine Assoziation die hier gemeinte? Für mich war dies besonders bei der letzten Erzählung mit dem Titel „Hexe“ der Fall, in der die Rose, deren Farbe sowie die Protagonisten als auch die Szenerie eine sehr fragile Rolle spielen.
Die Dramaturgie des Buches berücksichtigt Zeitgeschehen, Intimität und Fiktion. Ich finde diesen Aufbau genauso gelungen wie die poetische Beschreibung großer und kleiner Momente des Alltags. Deshalb erinnere ich mich gern auch nach der Lektüre an diese und empfehle den Erzählband der Dresdner Autorin Wiete Lenk unbedingt zur eigenen Erinnerungserweiterung.